Es soll bitte schön ein filigranes Gebilde aus vielen miteinander verbundenen Einzelteilen sein. Beweglichkeit in alle Richtungen und in sich selbst muss dabei ebenso gewährleistet sein, wie eine bei Bedarf explosive Schnelligkeit. Trotzdem muss das Ganze äußerst kompakt und robust sein, da es ein Vielfaches seines Eigengewichts zu tragen hat. Ach ja, und es sollte zudem möglichst verschleißfrei bleiben.
So in etwa würde der Bestellzettel lauten, wollte man einen menschlichen Fuß in Auftrag geben. Dennoch ließ sich dieses Meisterstück kosmischer Ingenieurskunst, mit seinen 26 durch Gelenke, Bänder und Sehnen zusammengehaltenen Knochen, bislang weder in China noch sonst wo auf Erden kopieren. Sicher, es gibt Roboterfüße, doch können die auch klettern, seiltanzen und Fußball spielen?
Die enorme Komplexität der Füße erklärt, warum auch deren bergtaugliche Beschuhung eine enorm komplexe Angelegenheit ist. Enorm komplex? Ja, richtig, denn Berg- oder Kletterschuhe müssen schließlich mehrere der oben genannten Aufgaben übernehmen. Reibung und Scherkräfte unter rhythmischer, hoher Gewichtsbelastung wegstecken und dabei trotzdem die Bewegungen ein Stück weit „mitmachen“. Ohne jedoch dabei die Formstabilität zu verlieren. Dann sollen sie die Füße zwar bitte optimal schützen, aber weder zu sehr einschnüren noch das Gefühl für den Untergrund einschränken.
Schuh-Steinzeit: die längste Schuh-Geschichtsepoche
Wegen dieser verzwickten, sich teils widersprechenden Anforderungen hat es mit der Entwicklung von wirklich guten Bergschuhen auch ein wenig länger gedauert. Genauer gesagt so um die 12.000 Jahre, von den ersten sandalenartigen Flechtwerken bis zu den heutigen Hightech-Tretern. Auch diese Zeitspanne verlief – wie die meisten anderen Entwicklungen der Menschheitsgeschichte – größtenteils ereignisarm. Um dann in der jüngsten Vergangenheit regelrecht zu explodieren.
Am Hauslabjoch in den Ötztaler Alpen war noch nicht allzu viel los, als „Ötzi“ dort vor gut 5200 Jahren ums Leben kam. Der wohl berühmteste Bergverschollene aller Zeiten trug dabei eine Kombination aus ledernem Innen- und Außenschuh. Dieser war innen mit Heu als Wärmeisolierung gefüllt.
Auf die Zeit des Ötzi schätzt man im Südtiroler Museum für Archäologie auch allgemein das Aufkommen der ersten „Bergschuhe“ des Alpenraums: Lederriemen, die unter die Fußsohlen gezogen waren, um die Traktion auf felsigem Untergrund zu verbessern.
Das Leder blieb bis ins 20. Jahrhundert sowohl für den Schaft als auch für die Sohle das Material der Wahl. Das lag nicht zuletzt daran, dass es kaum Alternativen gab. Andere verfügbare Materialien waren entweder zu weich und zu empfindlich oder zu hart, steif und spröde. Kautschuk und Gummi waren zwar seit der Erfindung der Vulkanisation 1839 auch für Schuhsohlen bekannt, doch beim alpinistischen Einsatz kamen sie schnell an Grenzen.
Schustereien im 19. Jahrhundert
Auch das ausreichend stabile Verbinden der verschiedenen Stoffe war mangels ausgefeilter Klebe- oder Nähverfahren schwierig. Einzelne Schustereien produzieren zwar schon im 19. Jahrhundert bessere Schuhe mit neuen Verfahren wie der Zwienaht, doch das bleiben eher Einzelstücke, maßgefertigt für eine gut betuchte Kundschaft.
Bevor nicht eine größere Zahl an Menschen in die Berge ging, war das Innovationspotential begrenzt, denn es gab nicht genügend (finanziellen) Anreiz, viel Zeit, Geld und Mühe in den technischen Fortschritt des Schuhwerks zu investieren. So waren selbst die Alpinisten im „goldenen Zeitalter“ der großen alpinen Erstbesteigungen noch mit „Bergschuhen“ unterwegs, die manch einer heute nicht mal mehr für einen Waldspaziergang anziehen wollte. Auch wenn der rustikale Nägel- und Metallbeschlag sicher interessierte Blicke auf sich ziehen würde.
Am Fuße der Dolomiten: Die erste Bergschuh-Industrie
Erst als zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Massengesellschaft an Großstadtmenschen „gereift“ war, begannen auch Normalbürger das Herumlaufen im Gebirge als eine erholsame und erstrebenswerte Tätigkeit zu betrachten, die eines guten Schuhwerks würdig war.
Es ist daher bestimmt kein Zufall, dass die ersten erfolgreichen Gehversuche einer hochwertigen Bergschuh-Fabrikation in Norditalien stattfanden, in der stark verstädterten Po-Ebene zu Füßen einer unendlichen Auswahl an Alpenbergen.
Besonders in der Dolomitenregion war auch die Tradition des Schuhmachers in der Kultur verwurzelt. Es entstanden hier ab dem ersten Weltkrieg Bergschuh-Schmieden wie Scarpa, La Sportiva oder Asolo, die heute noch klangvolle Namen in der Branche sind.
Die ersten richtigen Bergschuhe in Italien
Man orientierte sich bei der Konzeption von Bergschuhen vor allem an den schon vorhandenen Spezialschuhen für Förster und Jäger. Bis zum zweiten Weltkrieg entsteht so immerhin schon eine gewisse Auswahl robuster Treter, die sich für raues Gelände eignen und die Kletter- und Berg-Elite nicht davon abhalten, den 6. Grad im Fels zu meistern (vor allem die italienischen „Sestogradisti“) und in schwierigste Alpenwände einzusteigen.
Dabei tanzte man allerdings in Sachen Risiko stets auf einer Rasierklinge. Selbst auf einfachen Touren waren jederzeit materialbedingte Überraschungen möglich. Noch 1935 kommt es an der Punta Rasica (3305 m) an der schweizerisch-italienischen Grenze zu einem Bergunglück, bei dem sechs Bergsteiger wegen untauglichen Schuhwerks sterben.
Diesen Unfall nahm ein gewisser Vitale Bramani zum Anlass, eine neuartige, wasser- und winterfeste Gummisohle zu entwickeln und zu patentieren. Die neuen Sohlen, die fortan „Vibram“ heißen sollten, sind bis heute in fast jedem hochwertigen Bergschuh verbaut.
Von Wasserdichtigkeit des ganzen Schuhs, Atmungsaktivität oder anderem heute selbstverständlichen Komfort ist hier allerdings noch nicht die Rede. Generell hielt sich der Komfort angesichts der Zwischen- und Innensohlen aus Leder bei noch nicht vorhandenen Dämpfungen bis in die 70er Jahre sehr in Grenzen.
Selbst Spitzenbergsteiger hantieren mit selbst gebauten Provisorien herum, die man heute wohl als haarsträubend bezeichnen würde. So bastelten sich Louis Lachenal und Lionel Terray für ihre Begehung des Walkerpfeilers 1946 ihre „Profilsohlen“ aus Stücken von Autoreifen.
Gängige Methode war zu dieser Zeit auch, in schwierigen Passagen kurzerhand die Bergschuhe auszuziehen und mit Socken oder barfuß zu klettern.
Späte Durchbrüche
Erst gegen Ende der Siebziger waren die wesentlich leichteren Kunststoffe durch Firmen wie Gore-Tex weit genug entwickelt worden, um in Bergschuhe eingearbeitet werden zu können.
Nach und nach wurden dann die Rollen getauscht und das Leder wurde zum ergänzenden Material für verstärkte Einsätze an empfindlichen Zonen wie den Schnürösen. Die Stiefel werden leichter und zugleich ergonomischer.
„Richtige“ Bergschuhe unterscheiden sich mit Eigenschaften wie Steigeisenfestigkeit und Wasserdichtigkeit immer deutlicher von einfachen Wanderschuhen. Es entstehen immer mehr verschiedene Modelle und Kategorien von Bergschuhen.
Der deutsche Hersteller Meindl erfindet 1976 eine Skala von A bis D, die seitdem genutzt wird, um Bergschuhe nach Anwendungsbereichen zu klassifizieren.
In den Achtzigern kommen diverse Kunststoff-Polymere wie EVA und Polyurethan hinzu, die stabil und haltbar, aber dennoch flexibel und leicht sind. Da Leder knapp und teuer ist, während erdölbasierte Kunststoffe in Hülle und Fülle „sprudeln“, sinkt ab den Siebzigern auch das Kosten- und Preisniveau signifikant. Begleitet wird das Ganze durch Mauerfall, Globalisierung und die Verteilung der Produktionsstätten rund um den Globus.
Kletterschuhe mit Spätstart
Bis hierhin fiel noch kein Wort zu den Kletterschuhen, warum eigentlich? Nun, so präsent und selbstverständlich sie heute scheinen, so spät tauchten sie erst auf der Bildfläche auf.
Bis in die siebziger Jahre war Kletterei in aller Regel mit klassischen Bergschuhen oder improvisierten Schlappen, oft Marke Eigenbau angesagt. Bis dahin waren selbst die „normalen“ Bergschuhe mit Vibram-Sohlen nicht nur teuer, sondern oft auch schwer zu bekommen.
Improvisierte „Kletterpatschen“ gab es zwar längst, doch diese „Homemade-Produkte“ waren alles andere als stabil und haltbar. Da wurden teils dicke Socken mit Filz verstärkt oder um Leinenschuhe wurde irgendein Flechtwerk gepfriemelt.
Im Elbsandsteingebirge, dem wohl ältesten „Sportklettergebiet“ der Welt, hatte man Kaminkehrerschuhe verwendet, in den USA indianische Mokassins. Dass deren Reibungswerte nicht immer wirklich prickelnd waren, kann man sich denken.
Die heute gängigen Kletterschuhe mit den vorgespannten, über den Schaft gezogenen „Reibungssohlen“ kamen erst Jahrzehnte nachdem sich das Klettern an kleine(re)n Felsen schon als eigene Sportart etabliert hatte.
Denn auch hier gilt, dass hochwertiges Material in Serienreife und bezahlbarer Massenverfügbarkeit erst dann aufkommt, wenn genügend Nachfrage besteht. Das war im Falle der Sportkletterer, die eine weniger steife Sohle mit „mehr Gefühl“ benötigten, als die klassischen Bergsteiger, frühestens Ende der Siebziger der Fall. Zur wirklichen Massenbewegung wurde das Sportklettern nochmals viel später – in etwa um die Jahrtausendwende.
Die heute allgegenwärtigen „Patschen“ hat der Tiroler Spitzenkletterer Heinz Mariacher zu Beginn der Achtziger in ausgereifter Form entworfen.
Dabei arbeitete er mit den schon bei den Bergschuhen führenden Herstellern La Sportiva und Scarpa zusammen. Neue Gummimischungen ermöglichten eine profillose und dennoch extrem raue Sohle. Sie hatten damit einen wesentlichen Anteil an der enormen Schwierigkeitssteigerung der letzten drei Jahrzehnte und ermöglichen es heute Klettereinsteigern, binnen kürzester Zeit Passagen zu klettern, die noch in der jüngeren Vergangenheit an der Grenze des Möglichen lagen.
Ausblick: schöne neue Welt?
Gegenwärtig sind die Berg- und Kletterschuhe auf einem Komfort, Vielfalts- und Komplexitätsniveau angelangt, das kaum noch zu toppen scheint.
Zumindest wenn wir weiterhin selbstständig und „auf eigene Gefahr“ gehen und kraxeln wollen. Ansonsten ist in unserer vollvernetzten Vollkaskogesellschaft so einiges denkbar. Wie wäre es für den Anfang mit ein paar kleinen Seitenairbags im Schaft? Dann können wir mit smarter Elektronik und Nanotechnik nachlegen, die uns vor überkommenen Unannehmlichkeiten und Risiken wie Schwitzen und Stolpern schützt. Solche Malheurs gehören dann ebenso einer peinlich rückständigen Vergangenheit an wie Blasen und Geruchsbelästigung.
Noch mehr Fortschritt bringt dann selbstdenkendes Smart-Schuhwerk, das immer öfter helfend eingreift und uns von weiteren unverantwortlichen Risiken wie Ausrutschen befreit. Das wäre doch super: statt sich gegen Ende einer langen Tour übermüdet auf der letzten Geröllhalde vor der Hütte abzuplagen, einfach Autopilot am Screen anwischen und die Latschen machen lassen.
Wenn jetzt schon das selbstfahrende Auto anrollt, warum soll dann nicht der selbstlaufende Bergschuh hinterherdackeln – selbstverständlich mit 5G-Netz und eigener Facebookseite im Internet der Dinge.
Zuletzt aktualisiert: 06.07.2023
3 Comments on the Article
Moin, ich finde den Artikel sehr aufschlussreich und interessiere mich sehr für die Quellen, da ich zu einem ähnlichen Thema eine Arbeit schreibe. Danke und Liebe Grüße
Toller Artikel, ich würde gerne zum Autor Kontakt aufnehmen, weil ich den Artikel in der Mitgliederzeitschrift des Schwarzwaldvereins veröffentlichen möchte.
Hallo. Mich würden die Quellen interessieren von der Geschichte der Bergschuhe. Ich bräuchte dies für eine Masterarbeit. Kann man mir die weiterleiten? Ich finde sie nicht im Netz... LG