Man sieht sie viel zu häufig: Kletterer, die mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schuhe anziehen oder kaum, dass sie sich am Umlenker in den Gurt gesetzt haben, die Schuhe ausziehen und dabei so ein erleichtertes Gesicht machen.
Oder jene, die auf den Fersen zur Wand laufen – immer darauf bedacht, nicht zu viel Druck auf den Vorderfuß auszuüben.
Aber wie eng müssen bzw. dürfen Kletterschuhe eigentlich sein? Müssen sie wirklich schmerzen? Kann es Folgen haben, wenn ich sie zu eng trage oder muss ich eigentlich nur ein wenig die Zähne zusammenbeißen? Alles geben für den nächsten Schwierigkeitsgrad?
Angefangen hat die Kletterei mit schweren Bergschuhen mit genagelten Sohlen. Irgendwann dann, vor langer Zeit, wurde den Kletterern klar, dass sie mit speziellen Kletterschuhen schwerere Routen klettern können. Das lag zum einen an speziellen Sohlen, zum anderen aber auch daran, dass die Schuhe enger wurden und so gleichzeitig in den Zehen ein besseres Gefühl für sehr kleine Tritte ermöglichten.
Es folgte ein Hin und Her von immer schwereren Routen und immer aggressiveren Schuhen. Was das jedoch mit den Füßen macht, wurde lange nicht wirklich beachtet.
Man könnte nun zu enge Schuhe ausschließlich auf den Ehrgeiz abwälzen und damit einer kleinen Gruppe unter den Kletterern “in die Schuhe schieben” – aber dem ist nicht so! Es gibt so viele Kletterer, die die falschen Schuhe tragen, vor allem viel zu enge. Die Gründe warum das so ist, sind vielfältig.
Die Gewohnheit machts
Als Kletterer ist man daran gewöhnt, sehr enge Schuhe zu tragen, denn selbst passende Kletterschuhe sind im Vergleich zu Straßenschuhen sehr eng geschnitten. Über die Jahre desensibilisiert man sich systematisch und enge Schuhe fühlen sich vertraut an. Wo ein Anfänger noch ungläubig stöhnt “Bist Du sicher, dass mein Fuß da rein soll?”, zieht und drückt der Fortgeschrittene und hofft einfach darauf, dass der Schuh sich schon noch die versprochene halbe Größe weiten wird. Tut er es nicht, dann muss man halt damit leben.
Das Phänomen beschränkt sich aber nicht nur auf Kletterschuhe. Wir sind so daran gewöhnt, unsere Füße einzuschnüren, dass wir unbewusst anfangen, auch unsere Straßenschuhe kleiner zu kaufen. Wir sind ja viel engeres gewöhnt. Und so schreitet das dann immer weiter fort.
Die Mär vom notwendigen Schmerz
“Ein Kletterschuh muss weh tun” – diese Weisheit ist so unwahr wie hartnäckig. Sie führt dazu, dass viele Anfänger sich viel zu enge Schuhe kaufen. Was vollkommen unnötig ist, da man zu Beginn keine aggressiven Schuhe braucht und “einfachere” Schuhe ohnehin für die Entwicklung der Tritttechnik besser sind.
Ja, man kauft Kletterschuhe relativ eng, vor allem jene Modelle, die sich nach wenigen Kletterstunden stark weiten. Aber Schmerzen sollten die Schuhe auf keinen Fall bereiten! Vor allem, wenn die Schuhe auch nach mehreren Wochen immer noch viel zu eng sind. Dann solltest Du Dir Gedanken machen, sie auszutauschen.
Wie die Schuhe sich weiten
Zunächst mal von ganz allein, vor allem wenn es sich um Echtlederschuhe handelt. Also einfach klettern, klettern, klettern. Dies hat dann auch den Vorteil, dass sich der Schuh an Deine individuelle Fußform anpasst. Sollte Dir die Vorstellung, Deine neuen Schuhe beim Klettern mit Deinen Füßen zu weiten, Schweißperlen auf die Stirn zaubern, könnte dies ein guter Hinweis dafür sein, sie beim nächsten Mal (oder gleich) eine halbe Nr. größer zu kaufen.
Übrigens weiten sich Kletterschuhe, wenn sie warm werden. Also nicht wundern, wenn sie nach zwei Stunden Klettern in der Halle schön gemütlich sind, und man am nächsten Tag gefühlt wieder von vorne anfängt.
Je besser man klettert umso krasser die Schuhe
Auch dieses Gerücht zieht sich wie ein roter Faden durch die Sportarten. Je besser jemand in einem Sport ist, desto hochwertiger und anspruchsvoller ist auch das Material, das er/sie verwendet. Ergo: je besser ich klettere, umso vorgespannter und enger, also aggressiver, ist mein Kletterschuh. Oder anders herum, wenn ich zeigen will, dass ich ein echt krasser Kletterer bin, dann trage ich einen echt krassen Kletterschuh.

Schon mal hingeschaut in welchem Schuh Alex Honnold seine FreeSolo Begehungen macht? Unter anderem im La Sportiva TC Pro. Das ist jetzt nicht gerade DIE Maschine unter den Kletterschuhen.
Profis oder sehr erfahrene Kletterer unterscheiden zwischen den Disziplinen und Routen und tragen die dazu passenden Schuhe. Keiner von ihnen würde auf die Idee kommen, eine Mehrseillängentour mit einem extrem vorgespannten und viel zu engen Schuh zu klettern. Außer für die alles entscheidende Schlüsselstelle, und dann hat man auch noch andere Schuhe dabei.
Performance und Peinlichkeit liegen hier häufig sehr nah beieinander. Klettert man eine alpine Route mit vielen Seillängen in einem viel zu krassen Schuh, ist das eher, naja, peinlich, weil unnötig. Schafft man es allerdings, einen krassen Dachboulder in einem Pantoffel wie dem Anazasi zu klettern, dann dürfte man den Respekt der Umstehenden auf jeden Fall auf seiner Seite haben.
Aber sind zu enge Kletterschuhe überhaupt schlimm?
Hier, basierend auf einem Artikel des Kletterarztes Volker Schöffel aus dem Jahr 1999, die unterschiedlichen “Gefahren” falscher Kletterschuhe:
- Schwielen und Druckstellen: Sind an sich nicht schlimm, können aber Schmerzen bereiten, aufreißen und sich infizieren. Und schön sehen sie auch nicht aus.
- Nagelbettinfekte: Kommt daher, dass viele Kletterer ihre Zehennägel immer kürzer schneiden, damits in den engen Schuhen weniger drückt. Nicht selten schneiden sie dann ins Nagelbett. Werden solche Infekte verschleppt, müssen sie im schlimmsten Fall chirurgisch behandelt werden.
- Subunguale Hämatome (Blutergüße unter den Zehennägeln): Sind auch nicht so schlimm, aber schmerzhaft und erstaunlich häufig zu finden.
- Hallux Valgus: Fand sich (laut Bergsteigen.com) bei 54% der Kletterer. In der “normalen Bevölkerung” sind nur etwa 4% betroffen. Besonders tückisch: in jungen Jahren bereitet er nicht so viele Probleme, die dann aber mit zunehmendem Alter immer mehr werden. Ab einem bestimmten Punkt bleibt nur noch eine chirurgische Lösung.
- Hallux Rigidus: Eine Teilversteifung des Großzehengrundgelenkes, ursächlich aufgrund einer Arthrose durch Überbelastung. Kann auch schon in sehr jungen Jahren Auftreten.
- Dermatomykosen (Fußpilz): Weniger ein Problem der Passform als der Hygiene, aber ebenfalls unangenehm, auch für die Kletterpartner.
Nach Dr. Volker Schöffel sind die modernen Kletterschuhe durch ihre Passform, und die Schuhgröße, in der sie getragen werden, an einigen dieser Probleme mit Schuld.
Das erstaunliche daran: Kletterer betüdeln Tag ein Tag aus ihre Finger, Schultern, Arme und Nacken, um sich bloß nicht zu verletzen. Es wird getaped, gefeilt, gecremt und gepflegt. Nur die Füße, die werden kaum beachtet und in viel zu enge Schuhe gesteckt. Bei der Recherche zu diesem Artikel bin ich auf unzählige Artikel zu allen möglichen Extremitäten gestoßen, aber auf nur einen seriösen Text zum Thema Schuhe und Fußerkrankungen, und der stammt aus dem Jahr 2004.
Und was kann man jetzt besser machen?
Bequemere Schuhe tragen! Das bezieht sich sowohl auf die Passform als auch auf die Größe. Inzwischen gibt es so viele Modelle (allein bei uns im Shop sind es z.Zt. 275; Stand Nov. 2022), es sollte also für jeden die passende Größe und Passform dabei sein. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen, deren Füße sich noch in der Entwicklung befinden, sollte man unbedingt darauf achten, dass die Schuhe nicht zu eng sind.
Tipps zum Kauf der richtigen Kletterschuhe findest Du auch in unserem Basislagerartikel “Worauf achten beim Kauf von Kletterschuhen?” und in unserem Größenberater für Kletterschuhe. Hier findest Du auch Informationen zur Wahl der richtigen Größe und zu verschiedenen Fußformen.
Und den gesunden Menschenverstand wieder einschalten. Wenn die Füße schmerzen und sich Schwielen und Entzündungen bilden, dann kann etwas nicht stimmen. Und auch bedenken: Wenn solche Probleme dauerhaft auftreten, können die Konsequenzen auch permanent werden. Am besten klettert es sich immer noch mit einem gesunden und intakten Fuß, der nicht operiert werden musste.
Früher habe ich noch Witze darüber gemacht, inzwischen besitze auch ich zwei Paar Kletterschuhe. Ein eher bequemes, dass meinen Zehen viel mehr Platz lässt (Scarpa Vapor für Frauen) und ein sportliches Modell, das ich hauptsächlich fürs Bouldern nehme (La Sportiva Python). Das trage ich allerdings nur, wenn es wirklich knackig wird.
So halte ich es seit etwa einem Jahr und konnte feststellen, dass man sich sehr schnell wieder an weiter geschnittene Kletterschuhe gewöhnen kann. Inzwischen trage ich hauptsächlich den bequemen Scarpa. Meiner Kletterleistung hat dies indes keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, zu lernen, kleine Tritte auch mit einem weicheren Schuh zu stehen, hat meine Fußtechnik eher verbessert als verschlechtert.
Eins noch
Vorspannung oder ein asymmetrischer Leisten müssen an sich nicht schlecht für den Fuß sein. Inzwischen gibt es Stimmen, die besagen, dass ein vorgespannter, asymmetrischer Schuh mit ordentlich Downturn hier sogar das gesündeste ist. Leider konnte ich dazu keine aussagekräftige Literatur, sprich Medizinerstimme finden. Die beschäftigen sich auch lieber mit den Händen, den Schultern oder dem Nacken.
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